Der Lebensmittelwissenschaftler und Geophysiker Dr. Kurt Schmidinger ist Mitglied unseres Wissenschaftsbeirats. In diesem Gastbeitrag beschäftigt er sich mit dem Mythos vom Sojaschrot als Abfallprodukt.
Um die Sojabohne ranken sich viele Mythen. Einer davon lautet: Die Intensivtierhaltung trägt gar nicht ursächlich zur Regenwaldzerstörung bei, da Nutztiere nur mit Sojaschrot gefüttert werden – dem »Abfall« der Sojabohne. Die Intensivtierhaltungs-Industrie bedient sich dieser Aussage gern als Rechtfertigung für ihren gigantischen Sojaverbrauch. Aber wie sieht die Realität aus?
Soja und Gesundheit, Regenwald und Gentechnik
Die Sojabohne ist eine von Mythen und realen Problemen gebeutelte Hülsenfrucht. Oft geht es dabei um Gesundheitsthemen – etwa um kritisierte Inhaltsstoffe wie Isoflavone (Phytoöstrogene). Einer genauen wissenschaftlichen Betrachtung halten diese Kritikpunkte jedoch nicht stand.
Wofür der Sojaanbau zurecht kritisiert wird, ist die Zerstörung der Regenwälder und die gentechnische Anwendung. Bei Soja wird Gentechnik primär eingesetzt, um die Sojabohne gegen den Einsatz von Glyphosat widerstandsfähig zu machen. Alle Pflanzen sterben beim Glyphosateinsatz, nur die gentechnisch resistent gemachte Sojabohne nicht. Aber: Gentechnik-Soja und Regenwald-Soja sind ein Problem der Fleischproduktion und nicht von pflanzlichen Alternativprodukten. 77 % der Sojaproduktion weltweit werden an Nutztiere verfüttert, 7 % werden zu Tofu, Sojamilch, Tempeh & Co. Der Rest geht in die Lebensmittelindustrie oder wird für Agrartreibstoffe verwendet.
Die wechselnden Moden der Lebensmittelindustrie
Diese Probleme mit Soja sind also eindeutig Probleme der industriellen Nutztierhaltung. Um davon abzulenken, wird gern der Mythos bemüht, Nutztiere würden nur den Abfall der Soja-Produktion als Futter bekommen, nämlich Sojaschrot. Aber denken wir einmal an Bioläden und Supermärkte: Kann man dort nicht ganze Sojabohnen für den menschlichen Verzehr kaufen? Beißt sich das nicht mit der Aussage, ein Teil der Sojabohne sei »Abfall« und somit ungenießbar für den Menschen? Natürlich! Aber vielleicht will man mit der Aussage ja sagen, dass ein Teil der Sojabohne sehr unattraktiv für die menschliche Ernährung sei – also »Abfall« im weiteren Sinne?
Nun, das hängt davon ab, welche Zutaten in der Lebensmittelindustrie gerade in Mode sind. Man kennt das beispielsweise auch von Erbsen oder Kartoffeln: Es gibt Zeiten und Regionen, in denen die darin enthaltene Stärke mehr nachgefragt ist, zum Beispiel in der Backwaren- oder Teigwarenindustrie, und der Protein-Anteil zum Nebenprodukt wird. Und es gibt Zeiten, in denen umgekehrt das Protein in der Gunst zulegt, beispielsweise für Fleischalternativen, Proteinriegel oder –shakes, oder aber auch als Alternative zu Hühnerei oder Milchproteinen in der Lebensmittelindustrie. Dann wird die Stärke zum billigeren Nebenprodukt. Das bedeutet noch lange nicht, dass der jeweilige Nebenbestandteil »Abfall« ist, den man alternativlos an Tiere verfüttern müsste.
Beim Soja ist das genauso: Der proteinreiche Anteil vom Soja ist die Hauptbasis für Sojafleisch (TVP, texturiertes Soja), eine von mehreren pflanzlichen Proteinquellen. Ob dieser proteinreiche Anteil von Soja das Nebenprodukt der Sojaölgewinnung ist, hat etwas mit aktuellen Ernährungsvorlieben zu tun, aber die gerade weniger gefragte Komponente ist deshalb noch lange nicht »Abfall«.
Für den proteinreichen Sojaanteil werden oft die Begriffe »Sojaschrot«, »Sojaextraktionsschrot«, »Sojamehl« oder »Sojabohnenmehl« verwendet. Oft nutzt man diese Begriffe synonym. In der Wissenschaft bezeichnet »Sojaschrot« meist die gemahlene Sojabohne inkl. dem Ölanteil (Fettanteil), und Sojaextraktionsschrot die entfettete, erhitzte und gemahlene Sojabohne. Auch beim Sojamehl gibt es die Variante mit dem Ölanteil (vollfettes Sojamehl) oder ohne diesen (entfettetes Sojamehl). Beim Begriff »Sojabohnenmehl« ist das ähnlich, tendenziell verwendet man ihn aber eher fürs Tierfutter und für die entfettete Variante. Schrot und Mehl wiederum unterscheiden sich primär durch die Feinheit der Vermahlung. Wir verwenden in der Folge den Begriff »Sojaextraktionsschrot« für den proteinreichen Teil der Sojabohne nach der Extraktion von Sojaöl.
Öl oder Schrot oder beides – was macht Sojamonokulturen lukrativ?
Was aber macht nun den industriellen Sojaanbau so rentabel? Sojaöl oder Sojaextraktionsschrot? Oder beides in Kombination? Rechnen wir es einfach selbst nach:
Unsere Datengrundlage sind Zahlen von Forschern der Universität Illinois, von IndexMundi, Raiffeisen, der CME Group und des Landwirtschaftsministeriums der Vereinigten Staaten. Wir gewichten die neueren Preise höher und setzen US-Dollar und Euro (Stand Ende 2022) in etwa gleich. Das Ergebnis: 80 % der Sojabohnen sind Sojaextraktionsschrot zu ca. 380 €/Tonne und 18 % der Ausbeute sind Sojaöl zu ca. 1.400 €/Tonne. Der kleine verbleibende Rest ist nicht verwertbar. Auf Basis dieser Daten verdient man also pro Tonne Soja 304 € mit dem Sojaextraktionsschrot und 252 € mit Sojaöl. Sojaextraktionsschrot, also das, was uns die Nutztierhaltungsindustrie als »Abfall« suggerieren will, macht über die Hälfte der Einnahmen aus dem Sojaverkauf aus.
Gentechnik- und Regenwaldsoja wären ohne die Massentierhaltung schlicht unrentabel – das Sojaöl müsste man aus wirtschaftlicher Sicht durch Öle aus anderen Pflanzen ersetzen, bei denen die Ölausbeute höher ist als bei der Sojabohne. Und würden wir Massentierhaltungsfleisch durch Tofu, Tempeh, Sojamilch, Sojaschnitzel & Co. ersetzen, bräuchten wir mehr nachhaltige Sojafelder in Europa, frei von Gentechnik. Das liegt ganz einfach daran, dass genmanipulierte Sojaprodukte für die direkte menschliche Ernährung EU-weit per Verordnung deklariert werden müssen und dass es in der EU keinen Markt für diese gibt. Die meisten Hersteller von Sojaprodukten verwenden entsprechend Soja aus Europa.
Tierprodukte, bei denen die Tiere mit gentechnisch veränderten Futtermitteln gefüttert wurden, müssen hingegen nicht als gentechnisch verändert deklariert werden. Und so floriert immer noch ein gigantischer Import von jährlich ca. 3,6 Millionen Tonnen Soja nach Deutschland. Das sind über 40 kg Soja pro Kopf und Jahr, fast ausschließlich aus Nord- und Südamerika – als Futter in der Massentierhaltung und gentechnisch verändert.