Der Fleischatlas wird seit 2013 regelmäßig von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem BUND und Le Monde Diplomatique herausgegeben. Die Heftreihe beleuchtet globale Probleme, Folgen und Perspektiven der Massentierhaltung sowie des Fleischkonsums. In diesem Jahr ist der Tenor klarer denn je: Wir müssen unser Ernährungssystem grundlegend umgestalten, wenn wir die globalen Nachhaltigkeitsziele erreichen wollen – und dabei ist auch die Politik gefragt.
Von den vielen spannenden Themen im Atlas fassen wir im Folgenden einige für Sie zusammen. Die komplette Ausgabe des Fleischatlas können Sie hier herunterladen.
Der Fleischkonsum, der Regenwald und das Klima
Die weltweite Fleischproduktion wächst und wächst. Laut OECD wird sie bis 2029 um 40 Millionen Tonnen ansteigen. Sie läge dann bei etwa 366 Millionen Tonnen pro Jahr.
Eines der vielen Probleme daran: Die Landflächen, die für die Tierhaltung und für den Anbau von Futtermitteln benötigt werden, sind begrenzt. 70 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche auf der Welt werden laut Fleischatlas bereits für die Tierhaltung genutzt – und 40 % des globalen Ackerlands für die Futtermittelproduktion. Über ein Drittel aller Feldfrüchte landen pro Jahr in den Mägen der Tiere.
Soja, das wichtigste Futtermittel, wird vor allem aus Brasilien, den USA und Argentinien in die ganze Welt exportiert. Als Folge der anwachsenden Fleischproduktion müssen in diesen Ländern immer mehr Flächen zur Verfügung gestellt werden – zulasten der Umwelt und der Biodiversität. Das wird in Brasilien ganz besonders deutlich: Der Fleischatlas zeigt auf, dass zwischen 2006 und 2017 im Amazonas-Regenwald und in der Savanne Cerrado, die für ihre große Biodiversität bekannt ist, 220.000 Quadratkilometer Wald abgeholzt wurden. Das ist mehr als 60 % der Fläche Deutschlands. Die Gebiete wurden zum Großteil in Tierweiden, aber zu 10 % auch in Anbauflächen für Soja umgewandelt. Viele dieser Rodungen geschehen illegal. Eine Studie zeigt sogar, dass 20 % der Sojaexporte aus den genannten Gebieten in die EU von illegal abgeholztem Land stammen. Somit steht der Fleischkonsum in Europa in direktem Zusammenhang mit der Abholzung in Brasilien.
Der steigende Tierproduktkonsum führt nicht nur zum Verlust von Biodiversität, sondern schädigt auch das Klima: Je mehr Tiere gehalten, Futterpflanzen angebaut und Düngemittel eingesetzt werden, desto höher steigen die Treibhausgas-Emissionen. Insgesamt betrug der Anteil der »Nutztier«-Zucht und -Haltung an den globalen Emissionen im Jahr 2013 laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) 14,5 %. Das sind knapp 58 % der gesamten Treibhausgasemissionen des Nahrungsmittelsektors – eine bedenklich hohe Zahl, vor allem wenn man bedenkt, dass die Tierprodukte lediglich 37 % des Proteins und 18 % der Kalorienversorgung der Weltbevölkerung bereitstellen.
Gesundheitliche Gefahren
Zoonosen
Dass der globale Fleischhunger immer mehr Flächen beansprucht, hat noch eine weitere gefährliche Folge: Dringt der Mensch immer weiter in die Lebensräume von Wildtieren ein, steigt die Gefahr für Zoonosen – also für Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen überspringen. Der Fleischatlas zitiert eine Recherche der Zeitschrift Nature, die aufzeigt, dass »Rodungen oder Trockenlegungen von Flächen für die Landwirtschaft sowie die landwirtschaftliche Produktion mit mehr als 25 % aller Infektionskrankheiten und mehr als 50 % aller zoonotischen Infektionskrankheiten beim Menschen in Verbindung gebracht werden« können. Besonders problematisch ist vor diesem Hintergrund auch die Massentierhaltung: Dort leben viele Tiere eng zusammen, die sich genetisch sehr ähnlich sind. Ein Virus kann sich in solchen Umgebungen rasend schnell ausbreiten.
Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Tiergesundheit (OIE) sind 60 % aller beim Menschen existierenden Infektionskrankheiten Zoonosen. Sie führen jedes Jahr zu 2,5 Milliarden Krankheits- und 2,7 Millionen Todesfällen. ExpertInnen zufolge werden diese Zahlen weiter ansteigen, wenn nicht endlich politisch umgesteuert wird.
Die Alarmglocken sollten also schrillen – auch in Anbetracht der Tatsache, dass es noch weitaus tödlichere Erreger gibt als das neuartige Coronavirus. Sollte beispielsweise die Vogelgrippe (H5N1) derart mutieren, dass Menschen sich gegenseitig damit anstecken können, müssen wir laut Fleischatlas mit Millionen Toten rechnen, da die Krankheit eine sehr hohe Sterblichkeitsrate hat. Kürzlich wurde bekannt, dass die Variante H5N8 erstmals auf den Menschen übergesprungen ist.
Antibiotika-Resistenzen
Ein weiteres Problem, dass sich bereits zu einer großen Gefahr für den Menschen entwickelt hat, ist der Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung. Sie ist ein Grund dafür, dass sich antibiotikaresistente Keime immer weiter ausbreiten. Jedes Jahr sterben 700.000 Menschen an den Folgen solcher Resistenzen. Besonders gefährlich wird es, wenn Bakterien gegen die sogenannten Reserveantibiotika resistent werden – also gegen Medikamente, die eigentlich als letztes Mittel in der Humanmedizin eingesetzt werden.
Die Resistenzen entstehen durch unsachgemäße und übermäßige Anwendung – vor allem in der Tierhaltung: 73 % aller verkauften Antibiotika werden weltweit für die Behandlung von Tieren genutzt, Tendenz steigend. Die Anwendung erfolgt häufig ohne medizinischen Grund: In den USA beispielsweise wurden Tieren im Jahr 2018 37,3 % der Antibiotika ohne medizinische Begründung verabreicht. Man behandelt beispielsweise vorbeugend ganze Herden oder setzt die Antibiotika ein, damit die Tiere schneller an Gewicht zunehmen.
Wer bei all dem denkt, dass die Wissenschaft ja einfach neue Antibiotika entwickeln kann, irrt: Die »neueste« Antibiotikaklasse ist 2007 auf den Markt gekommen. Neuere Wirkungsmechanismen oder Wirkstoffe sind nicht in Sicht.
Kulturwandel und Politik
Junge Menschen lehnen Massentierhaltung ab
Verändert sich die Einstellung der Menschen zum Fleischkonsum? Hinweise darauf liefert eine repräsentative Umfrage, die im Auftrag des Fleischatlas unter 15- bis 29-Jährigen Deutschen durchgeführt wurde. Die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache:
Verglichen mit der Gesamtbevölkerung ernähren sich doppelt so viele junge Menschen vegetarisch (10,4 % der Befragten) oder vegan (2,3 %)
Als FlexitarierInnen bezeichneten sich 25 % der Befragten
44 % der FleischesserInnen gaben an, in Zukunft weniger Fleisch essen zu wollen
Einig sind sich die Umfrage-TeilnehmerInnen darin, dass sie die heutige Form der Tierhaltung ablehnen. Außerdem sehen sie den Staat in der Verantwortung, unsere Ernährung nachhaltiger zu gestalten. So sprechen sie sich etwa für eine Klimakennzeichnung von Lebensmitteln und für strengere Tierschutzgesetze aus. Der Aussage, »Der Staat soll durch eine Steuer den Fleischpreis erhöhen und das Geld für mehr Klimaschutz einsetzen« stimmen fast 70 % der Befragten voll, eher oder teils zu – unabhängig von ihrem Ernährungsverhalten. 57 % sprechen sich darüber hinaus für ein Werbeverbot für klimaschädliche Produkte wie Fleisch aus.
Mit ihrem deutlich reduzierten Fleischkonsum sind die jungen Menschen auf einer Linie mit den Empfehlungen der ErnährungsexpertInnen. Diese empfehlen höchstens 15 Kilogramm Fleisch pro Jahr – der tatsächliche Verbrauch liegt aber aktuell bei 60 Kilogramm. Würden alle Menschen weniger Fleisch essen, hätte das vielfältige Vorteile. Berechnungen zeigen zum Beispiel, dass eine Reduktion gemäß der Vorgaben dazu führen würde, dass die Treibhausgas-Emissionen aus der Rinderhaltung von 12,3 auf 6,4 Millionen Tonnen sinken würden.
Die Ignoranz der Politik
Die AutorInnen des Fleischatlas betonen, dass sich insbesondere die Politik ihrer Rolle bewusst werden muss. Die notwendigen, weitreichenden Ernährungsumstellungen lassen sich ohne politische Interventionen nicht umsetzen. Doch trotz Empfehlungen durch Fachgremien wie dem Weltklima- und Weltbiodiversitätsrat hat bislang kein Land der Welt Reduktionsziele für den Fleischkonsum definiert.
Statt zu handeln und den Fleischverbrauch mit politischen Mitteln zu senken, behaupten die EntscheidungsträgerInnen in Deutschland, dass der Staat keine Handlungsmöglichkeiten habe. Doch das stimmt nicht. Als mögliche Stellschrauben für die Politik nennen die VerfasserInnen des Fleischatlas unter anderem:
Realistische Fleischpreise, die die ökologischen und sozialen Kosten widerspiegeln
Werbung mit realistischer Bebilderung
Sonderangebote im Supermarkt so regulieren, dass sie nicht unter dem Produktionspreis liegen
Höhere Besteuerung tierischer Produkte bei gleichzeitig günstigeren Preisen für Gemüse und Obst
Zielgruppenspezifische Informationskampagnen
Förderung pflanzlicher Ernährung in Kitas, Schulen und Krankenhäusern
In ihrer Verweigerungshaltung ignoriert die Politik einen wichtigen Punkt, auf den die VerfasserInnen des Fleischatlas hinweisen: Unsere Konsum- und Ernährungsentscheidungen hängen nun einmal maßgeblich vom persönlichen Umfeld, von gesellschaftlichen Normen und Werten ab – und diese Faktoren werden aktuell deutlich von der Privatwirtschaft beeinflusst. Auch sie sollte sich ihrer wichtigen Rolle bewusst werden.
Alternativen auf dem Vormarsch
Immerhin: Der Markt für pflanzliche Alternativen wächst und wächst. ExpertInnen erwarten weltweit in den kommenden Jahren eine jährliche Wachstumsrate von 20 bis 30 %.
Schlachthofskandale, Kritik an der Tierhaltung, Klima- und Umweltschutz: Die Gründe, aus denen VerbraucherInnen auf Alternativprodukte umsteigen, sind vielseitig und zahlreich. Dazu kommt, dass sich die pflanzlichen Alternativen mittlerweile geschmacklich so sehr weiterentwickelt haben, dass der Unterschied zwischen »Original« und Alternative häufig kaum mehr erkennbar ist. Das liegt auch daran, dass etablierte Fleischkonzerne mit ihrem Know-how in den Markt eingestiegen sind – mit Erfolg: Die Rügenwalder Mühle zum Beispiel vermeldete im Juli 2020 erstmals mehr Umsatz mit veganen und vegetarischen Alternativen als mit den klassischen Produkten aus Tier.
Zahlreiche Start-Ups machen sich unterdessen mit Geld von InvestorInnen im Rücken daran, die Alternativen immer weiter zu verfeinern und Innovationen auf den Markt zu bringen. Besonders umkämpft ist dabei aktuell das Feld des Fleischs aus Zellkulturen.
Wie sich die Zukunft der Alternativprodukte entwickeln wird, hängt laut Fleischatlas davon ab, welche Unternehmen die Märkte prägen werden: »Die Finanzkraft und Marktpräsenz großer Akteure können dazu führen, dass sich ihre Produkte schneller durchsetzen«, so die AutorInnen.
Fazit
Der Fleischatlas 2021 diskutiert in gewohnt kompakter und ansprechend aufbereiteter Form die aktuellen Fragestellungen, Probleme und Perspektiven des Fleischkonsums. Dabei stellen die AutorInnen überzeugend dar, warum eine Reduktion des Fleischkonsums existenziell wichtig ist – und dass KonsumentInnen, Politik und Privatwirtschaft an einem Strang ziehen müssen, um das Ruder noch herum zu reißen.